MEHR ALS SPEKTAKEL

von Seda Niğbolu

Endlos reisende Familienkompanien, Löwenbändiger in glitzernden Kostümen, adrenalinpumpende Nummern, begleitend von grotesker Musik. Das Wort “Zirkus” löst in Vielen entweder Gedanken an die Unschuld der Kindheit aus oder hat einen unangenehmen Beigeschmack wegen der Ausbeutung von Tieren oder Performern. Das ist fast Geschichte. Wenn man als Alternative zur inhaltslosen Standardprogramm nur an den dramatisch veranlagten neuen Zirkus à la “Cirque du Soleil” denkt, liegt man immer noch falsch.Es gibt ihn, den zeitgenössischen Zirkus, und zwar seit den 90er Jahren. Körperliches Können ist nicht sein Ziel, sondern sein Mittel, sich selbst zu Kunst zu machen. Genauso aussagestark wie zeitgenössicher Tanz und Theater, jedoch noch nicht so anerkannt.

Wie kommt es, dass eine Stadt, in der das verwöhnte Kunstpublikum sich eher über das “Überangebot” beschwert, ihr erstes Festival für zeitgenössischen Zirkus erst jetzt bekommt? Eine Stadt, die für experimentelle Formen der darstellenden Künste so aufnahmebereit ist… Johannes Hilliger und Josa Kölbel, die Initiatoren des 1. Circus Festival Berlin auf dem Gelände des Circus Schatzinsel in Kreuzberg, beide 28 Jahre alt, haben sich dieselbe Frage gestellt und das Festival mit viel Herzblut und Eigeninitiative auf die Beine gestellt. Sie wollten zeigen, “dass Zirkus Kunst ist”. Die Förderung kam absurderweise eher aus Ländern wie Frankreich – woher die neue Zirkusbewegung stammt – oder Tschechien, wo der zeitgenössiche Zirkus schon als eigenständige Disziplin anerkannt und förderwertig ist.

Das Programm vom 1. Circus Festival Berlin ist unter finanziellen Umständen quantitativ bescheidener als seine etablierte Zeitgenossen wie CIRCa im französischen Auch oder Subcase in Stockholm. Es meistert aber seine Mission, die Vielfalt des Zirkusses von kluger Unterhaltung bis zu provozierender Performanz zu zeigen. Gezündet und fröhlich gestimt wurde das Festival vom Stück “Slapstick Sonata” von La Putyka aus Prag. Absurde körperliche Komödie traf visuell faszinierende Seilakrobatik. Auf der Bühne war es wild und krachig. Rund 150 Zuschauer, die die Bühne umgegeben haben, haben derartig gelacht und geklatscht, als hätten sie solche Unterhaltung seit langem vermisst. Das Herz schlug mit, mal mit Bewunderung, mal mit Angst vor Gefahr.

Fliegende, sich verdrehende, windende Körper bedeuten aber mehr als reine Darbietung. Im Zirkus geht es um Körper, die rebellieren und ihre Grenzen austesten. La Putyka’s Interpretation von Zirkus macht das indirekt, in dem sie eher aufs Spektakel Wert legt und kulturelle Normen und Geschlechter-Klischees reproduziert. Dafür war die Überraschung beim Rest des Festivals umso grösser. Bei “Plateau Partagé – Shorts” ging es um die performativen Aspekte von Zirkus, ohne den Humor zu vernachlässigen. Mal herumalbernd, mal erschöpft stolpernd hat das französische Duo Val & Coline die Tanz- und Zirkustraditionen umgekehrt. Der irische Jongleur Darragh McLoughlin forderte die Zuschauer auf, die Augen zu schliessen, jedesmal wenn er in seine Pfeife bläst. Mit einer sehr einfachen Idee hat er filmische Effekte erschafft und mit den voyeuristischen Instinkten der Zuschauer witzig gespielt. Natalie Reckert’s Performanz war eine biographische Mensch-Maschine-Ode, nur im Handstand erzählt. Und am Ende kommt ein äusserst spannendes Highlight. Drei Frauen der skandinavischen Kompanie Tanter werden die komplizierte Fragen der Geschlechter, Stärke und Zerbrechlichkeit mit Luftakrobatik bearbeiten.

Circus Schatzinsel am May-Ayim-Ufer erschafft die passende warme Stimmung für diesen ersten Schritt. Es ist entspannt, grün und übersichtlich. Hilliger und Kölbel betonen, dass sie das Festival in dieser Form grösser machen, aber seinen speziellen Charm nicht verlieren möchten. “Wir wollten nichts steriles haben. Hier geht es nicht darum, eine Maschine aufzubauen. Es geht darum, dass das Herz dabei ist.” Für sie ist es auch von Bedeutung, dass Circus Schatzinsel mit Kinder- und Jugendarbeit viel zur Zirkuslandschaft in Berlin beiträgt. Jetzt möchten die Beiden dieser Landschaft etwas zurückgeben, auch ihren Mitstreitern wie der Initiative Neuer Zirkus oder Netzwerk Zirkus, die für die Sichtbarkeit des zeitgenössichen Zirkus in Deutschland arbeiten.

In der Abwesenheit strenger Kategorien hat es Zirkus nicht so einfach mit der Sichtbarkeit. Er ist noch nicht als “hohe Kunst” anerkannt, obwohl viele der
Performer heutzutage einen akademischen Hintergrund haben. Er weigert
sich aber auch, in der kommerziellen Unterhaltungsindustrie mitzumachen. Aber genau diese Freiheit macht alles so authentisch. Zirkus ist fähig, alle zu begeistern. Seine Bühne ist ein bunter Ort für narrative, körperliche und
gesellschaftliche Diversität. Das 1. Circus Festival Berlin geht bis zum 13.09. weiter. Die Reise des zeitgenössichen Zirkus in Berlin ist noch am Anfang. Aber der ist sehr leidenschaftlich …

www.berlin-circus-festival.de/

Dies ist die ungekürzte und unredigierte Fassung des Textes, der am 11.09.2015 in der Berliner Zeitung erschienen ist.

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